Durch Schmerzen ausgelöste Verhaltensstörungen: Symptome der Osteoarthritis
World Small Animal Veterinary Association World Congress Proceedings, 2010
Sabine Tacke, Priv. Doz. Dr. med. vet.
Gießen, Deutschland

Lesen Sie die englische Übersetzung: Behavioral Manifestations of Pain: Assessing Clinical Signs in Osteoarthritis

Einführung1, 7, 8, 9, 12, 14, 15

Nicht nur der Mensch, sondern auch das Tier empfindet Schmerzen. Es gilt heute als gesichert, dass Tiere nozizeptive Reize in sehr ähnlicher Art und Weise wie der Mensch registrieren, transportieren, verarbeiten und modifizieren. Im Unterschied zur Humanmedizin ist die Beurteilung von Schmerzen beim Tier aber dadurch erschwert, dass Tiere ihre Schmerzen nicht selber beurteilen und mit dem Beurteiler nicht kommunizieren können. Die Schmerzbewertung beim Tier ist somit nicht einfach möglich. Dies bedeutet aber nicht, dass die Schmerztherapie beim Tier zu vernachlässigen ist. Schmerzbewertung beim Tier setzt Erfahrung und genaue Beobachtungsgabe voraus. Die Meinung, dass postoperative Schmerzen protektiv wirken ist heute auch nicht mehr haltbar und gilt als wissenschaftlich falsch. Schmerztherapie sollte so früh wie möglich beginnen und Schmerzen sollten erst gar nicht entstehen. Sind Schmerzen erst einmal vorhanden, so ist die Therapie schwieriger und der Erfolg nicht immer gesichert je länger der Schmerz besteht. Gerade die Diagnose und auch die anschließende Therapie chronischer Osteoarthritis (OA)-Schmerzen bereitet dabei oft große Probleme, denn nicht immer sieht man eindeutige Krankheitssymptome. In Zweifelsfällen sollte eine Schmerztherapie immer dann durchgeführt werden, wenn auch beim Menschen in der entsprechenden Situation Analgetika verabreicht werden würden. In einigen Fällen mag es dabei zur "übertherapie" kommen, aber das Risiko von möglichen Komplikationen ist geringer als die durch anhaltende Schmerzen verursachten Probleme, vor allem die, die sich aus der Sensibilisierung ergeben. In einzelnen Fällen kann auch eine diagnostische Therapie im Verlauf der Ursachenforschung notwendig werden. Schmerzspezifische Verhaltensänderungen hängen beim Tier von vielen Faktoren wie auch Spezies, Rasse, Alter, Geschlecht, Persönlichkeit und die Schwere und Dauer des Schmerzes ab. Diese oft unscheinbaren Schmerzanzeichen können ein angeborener Schutzmechanismus der Tiere sein. So kann verhindert werden, dass ein Raubtier den schmerzhaften Patienten als leichte Beute erkennt.

Chronische Schmerzen bei Osteoarthritis2-11, 13

Chronische und vor allem rezidivierende Schmerzen sind das Kardinalsymptoms bei orthopädischen Erkrankungen die mit Arthrosen einhergehen. Die Schmerzen in arthrotisch veränderten Gelenken sind in erster Linie durch eine aktivierte Arthrose bedingt und Entzündungsreaktionen spielen eine ganz wichtige Rolle. Durch den oft immer wieder aufflammenden Prozess kommt es im Verlauf der Erkrankung zur peripheren und auch zentralen Sensibilisierung. Dies kann neben der Hyperalgesie auch eine Allodynie zur Folge haben. Nicht zu jedem Zeitpunkt sind die Schmerzsymptome der OA deutlich zu erkennen und daher wird der OA-Schmerz auch als "Silent Problem" bezeichnet.

Oft ist es nicht einfach, chronisch-orthopädische Schmerzen sicher zu erkennen, denn die Erfassung von chronischen Schmerzen ist deutlich schwieriger als die Erfassung von akuten Schmerzzuständen und kann häufig erst retrospektiv, nach erfolgreicher Therapie, sicher bestimmt werden. Chronische Schmerzen entwickeln sich sehr oft langsam über einen sehr langen Zeitraum. Zusätzlich handelt es sich gerade bei Patienten mit arthrotischen Schmerzen oft um ältere Hunde oder Katzen, die zusätzlich vielmals noch adipös und somit oft träge im Bewegungsablauf sind. Der Besitzer spricht diese langsam einsetzenden Verhaltensänderungen dem Alter des Tieres zu und bringt sie nicht in Verbindung zu organischen Erkrankungen. Daher stehen häufig nicht klassische Symptome wie Lahmheit, Störungen im Bewegungsablauf oder eindeutige Schmerzreaktionen im Vordergrund der OA sondern ganz subtile, individuelle Verhaltensänderungen. Es sind sogar Fälle beschrieben, in denen die Patienten zunächst bei Verhaltenstherapeuten vorgestellt wurden, die dann eine OA diagnostiziert haben. Nach erfolgter, erfolgreicher Therapie (Schmerztherapie und/oder Operation, und/oder Multimodale Therapie) waren in diesen Fällen auch die Verhaltensstörungen nicht mehr sichtbar.

Noch viel häufiger als beim Hund treten solche Verhaltensstörungen bei Katzen mit chronischen OA-Schmerzen auf. Zusätzlich werden diese Verhaltensstörungen bei Katzen noch viel seltener mit OA-Erkrankungen in Verbindung gebracht. Die Ursache ist in der oft ungenügenden Schmerzbeurteilung und in der Fehlinterpretation des Schmerzgrades zu sehen. Katzen passen ihr Bewegungsverhalten der Erkrankung an und sie werden im Allgemeinen nicht wie der Hund ausgeführt. Lahmheiten bleiben in Folge daher oft unbemerkt. Die Schmerzbewertung bei der Katze erfolgt durch die Beurteilung von spezifischen Verhaltensweisen und diese sind häufig sehr fein und individuell. Außerdem ist es bei der Katze in der tierärztlichen Praxis nicht immer sehr einfach zwischen einer Stress-, Angst- und Schmerzreaktion deutlich und sicher zu unterscheiden. Auch in solchen Fällen kann nach ausführlicher Diagnostik und Ausschluss von anderen Organerkrankungen eine diagnostische Therapie notwendig und sinnvoll sein.

Diagnose von OA bedingten Verhaltensstörungen

Zur Erfassung von weniger auffälligen Verhaltensänderungen, die durch chronische Schmerzen ausgelöst werden können, sind die Beobachtungen des Tierhalters sehr hilfreich. Diese müssen aber durch gezielte Fragen erst für den Tierhalter als Anzeichen für Schmerzen bewusst gemacht werden. Daher spielt die Anamnese in diesen Fällen eine sehr große Rolle. Aufgrund der sehr vielfältigen möglichen Verhaltensänderungen müssen eine Reihe von Fragen gestellt werden und das teilweise sehr unterschiedlichen Verhalten von Hund und Katze ist außerdem mit zu berücksichtigen.

Hierbei kann der jeweilige Gelenkschmerz sowohl als Ruheschmerz imponieren, häufiger jedoch tritt er als Einlauf- und Belastungsschmerz vor allem an den großen Gelenken auf. Da die Tiere sich oft weniger Bewegen bei erhaltener guter Futteraufnahme kommt es oft zur Zunahme der Körpergewichts. Spezifischen Schmerzanamnesebögen können daher bei der Diagnosestellung von chronischem OA-Schmerz sehr hilfreich sein. Bei der Beurteilung von Röntgenbildern ist unbedingt zu beachten, dass der Grad der radiologisch sichtbaren arthrotischen Veränderungen nicht mit dem Grad der klinischen Beschwerden einhergehen muss.

Hund

Mögliche Verhaltensänderungen bei chronischen Schmerzzuständen des Hundes können sein (1) Ängstlichkeit, (2) verminderte soziale Interaktion, (3) Unterwürfigkeit, (4) Aggressivität, (5) verminderte Aktivität, (6) Leistungsminderung, (7) vermindertes Temperament, (8) ungewöhnliche Körperhaltung und (9) Gangabnormalitäten. Auch (10) Jaulen und (11) Automutilation können Anzeichen für Verhaltensänderungen durch OA bedingten Schmerz sein. Zeitweise werden gerade Aggressivität und Abwehrhaltungen bei Manipulationen wie Bürsten oder Streicheln der Tiere sichtbar. Aber auch Vermeidungshaltungen wie (12) fehlende Bereitschaft ins Auto zu springen, (13) das Sofa dient nicht mehr als Schlafplatz, (14) beim Klingeln läuft das Tier nicht mehr zur Tür und (15) Morgensteifigkeit und Unwilligkeit aufzustehen, können auf chronische OA-Schmerzen hinweisen. Natürlich ist bei der Anamnese auch nach klassischen Anzeichen wie (16) Lahmheit nach Belastung und (17) Lahmheit nach Ruhe zu fragen.

Katze

Mögliche Anzeichen für chronische OA-Schmerzzustände bei der Katze sind oft (1) aggressives oder (2) ängstliches Verhalten, (3) erhöhter Schlafbedarf, (4) vermehrte Lautäußerungen. Auch (5) veränderte soziale Verhaltensweisen, wie weniger Bereitschaft zum Spielen und Vermeidungshaltungen, die Katze ignoriert den Kratzbaum, können Anzeichen für OA-Schmerzen bei der Katze sein. Ebenso können (6) verminderte oder (7) vermehrte Fellpflege ein Hinweis für OA bedingte Schmerzen sein. So können Katzen in der tierärztlichen Praxis mit dermatologischen Problemen wie Alopezie vorgestellt werden, die Ursache ist aber in einer OA zu suchen und Hyperalgesie oder Allodynie sind die Ursache. Diese entstehen durch die Sensibilisierungsvorgänge im Verlauf der chronischen OA. (8) Katzen weichen oft plötzlich Berührungen im Bereich der erkrankten Region aus, sie erwarten einen Schmerzreiz und wollen ihn vermeiden oder (9) sie verstecken sich. Wird das Futter erhöht angeboten, so kann es auch zur (10) Gewichtsreduktion kommen, wenn die Tiere diese erhöhte Position des Futterplatzes nicht mehr erreichen können. (11) Unsauberkeiten, oft als unkontrollierter Urin- und/oder Kotabsatz interpretiert, sind auch mögliche Anzeichen für OA-Schmerz bei der Katze, wenn die Katze aufgrund von Schmerzen nicht mehr die Katzentoilette benutzen kann.

Aufgrund der Vielzahl der möglichen Verhaltensänderungen bei der Katze ist es hier besonders wichtig, den physiologischen Tagesablauf einer Katze zu kennen. Die Katze schläft ca. 9.50h, ruht ca. 5.30h, jagt ca. 3.60h, putzt sich ca. 3.50h, läuft ohne zu Jagen ca. 0.60h, ist ca. 0.58h unsichtbar, verbringt ca. 0.55h mit Nahrungsaufnahme und 0.33h beschäftigt sie sich mit anderen Dingen. Neben den Verhaltensstörungen müssen natürlich auch die Ergebnisse der radiologischen und klinischen Untersuchung mit berücksichtigt werden. Dieses Vorgehen wird bei der Katze auch als Triangulation bezeichnet.

Klinische Schlussfolgerungen7, 8, 11, 14, 15

Gerade chronische OA-Schmerzen können neben klassischen Symptomen, wie Lahmheit und Bewegungseinschränkung, eine Vielzahl von Verhaltensänderungen und -störungen bei Hund und Katze hervorrufen. Eine interaktive und nichtinteraktive Bewertung der Verhaltensänderungen, die durch Schmerz hervorgerufen sein können, ist in diesen Fällen sehr hilfreich. Zur Beurteilung und Bewertung der Verhaltensänderungen wird eine sogenannte "Health related Quality of Life" Skala eingesetzt. Dieser Fragebogen evaluiert körperliche Parameter, Verhaltensänderungen und soziale Faktoren. Der Besitzer muss Fragen wie z.B. "verhält sich Ihr Tier normal" mit regelmäßig, zeitweise oder selten bewerten. Die Ergebnisse dieser Bewertung der Lebensqualität (QOL) müssen zusammen mit der klinischen Untersuchung und anderen Schmerzskalen in Zusammenhang ausgewertet werden. Diese Vorgehensweise kann helfen das Wohlergehen der Tiere zu verbessern.

Weitere Literaturstellen auf Nachfrage bei der Autorin erhältlich.

Literatur

1.  Bennett and Clarke. Proceedings ESVOT 2004; 14.

2.  Cambridge et al. J Am Vet Med Assoc 2000; 217 (5): 685.

3.  Clarke and Bennett. J Small Anim Pract 2006; 47 (8): 439.

4.  Curtis. Compend 2007; 29 (2): 104.

5.  Flecknell. Vet Anaesth Analg 1994; 21 (2): 98.

6.  Henke and Erhardt. Schmerzmanagement bei Klein- und Heimtieren. Stuttgart: Enke 2001.

7.  Hielm-Bjorkman et al.. J Am Vet Med Assoc 2003; 222 (11): 1552.

8.  Hielm-Bjorkman et al. Am J Vet Res 2009; 70 (6): 727.

9.  Lascelles et al. Vet Anaesth Analg 2008; 173.

10. Levine. Vet Clin North Am Small Anim Pract 2008; 38 (5): 1065.

11. Lindley. Veterinary Times 2006; Dec 2005.

12. Tacke. Schmerzbehandlung in der Kleintiermedizin. Stuttgart: Enke 2005.

13. Watson. Aust Vet J 1998; 76 (12): 792.

14. Wiseman et al. Vet Rec 2001; 149 (14): 423.

15. Wiseman-Orr et al. Am J Vet Res 2004; 65 (8): 1077.

 

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Sabine Tacke, Priv. Doz. Dr. med. vet.
Giessen, Germany


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