Degenerative Myelopathie bei Hunden: Neues zur Diagnose, Pathogenese und Behandlung
World Small Animal Veterinary Association World Congress Proceedings, 2010
Thomas Flegel, Dr.med.vet., DECVN, DACVIM (Neurology)
Leipzig, Deutschland

Lesen Sie die englische Übersetzung: Degenerative Myelopathy in Dogs: Current Issues on Diagnosis, Pathogenesis and Treatment

Klinische Symptomatik

Die Degenerative Myelopathie (DM), ursprünglich auch als chronische degenerative Radikulomyelopathie bezeichnet, wurde erstmals 1973 beim älteren Deutschen Schäferhund beschrieben.1 Seither wird sie auch in anderen großen Hunderassen beobachtet: Berner Sennenhund, Boxer, Chesapeake Bay Retriever, Collie, Englischer Mastiff, Deutscher Schäferhund Mischling, Irischer Setter, Irischer Terrier, Kerry Blue Terrier, Kuvasz, Labrador Retriever, Old English Sheepdog, Sibirischer Husky und Rhodesian Ridgeback.2-9 Unserer eigenen Erfahrung nach kann die Erkrankung auch häufiger beim Hovawart und weiteren Retrieverrassen gesehen werden. Die geschätzte Prävalenz der DM liegt für den Deutschen Schäferhund bei 2,91% und für den Chesapeake Bay Retriever bei 1,51%.10 Der Pembroke Welsh Corgi scheint die einzige kleinere Hunderassen zu sein, bei der die DM gehäuft beobachtet wird, während sie bei anderen kleinen Hunden (Zwergpudel) und Katzen eher selten ist.8,9,11,12 Der Begriff "Degenerative Myelopathie" ist ein sehr allgemeiner Terminus, der vom histopathologischen Standpunkt gesehen unterschiedliche Erkrankungen, über die eigentliche DM im engeren Sinne hinaus, vereint. Dennoch wird dieser Begriff hier beibehalten, da er sich als Bezeichnung für die Degeneration spezifischer Bahnen des Rückenmarks beim älteren Hund größerer Rassen etabliert hat.

Die Erkrankung ist beim Deutschen Schäferhund, bei dem sie in der Regel ab einem Alter von 5 Jahren (Mittelwert: 9,6 Jahre) auftritt, bisher am besten beschrieben.1 Die initialen klinischen Symptome sind relativ unspezifisch und können leicht mit chronischen orthopädischen Erkrankungen, wie der Hüftgelenksdysplasie, verwechselt werden. Die betroffenen Hunde erscheinen anfangs in den Hintergliedmaßen instabil, bevor die Symptomatik zu einer offensichtlichen Ataxie der Hintergliedmaßen mit Beeinträchtigung der Stellreaktionen voranschreitet. Die Symptomatik entspricht einer Läsion des Oberen Motorneurons der Hintergliedmaßen. Mitunter kann eine Lateralisation der Ausfälle beobachtet werden. Segmentale Rückenmarksreflexe sind in aller Regel normal bis gesteigert, in ca. 15% der Patienten können jedoch auch verminderte Patellarsehnenreflexe vorliegen (ein- oder beidseitig). Hunde, bei denen dieser Reflex vermindert ist, zeigen oft histopathologische Veränderungen in den entsprechenden Nervenwurzeln. Es ist jedoch offen, ob es sich dabei um Veränderungen im Rahmen der DM handelt, oder ob sich diese Veränderungen mit dem korrespondierenden Reflexausfall im Rahmen normaler Alterungsprozesse entwickeln. Letztere Erklärung könnte durch die Tatsache unterstützt werden, dass ungefähr ein Drittel der Hunde, die 9 Jahre oder älter sind, einen ein- oder beidseitig verminderten Patellarsehnenreflex zeigen, ohne dass andere offensichtliche neurologische Ausfälle vorliegen.14

Im Zuge der Progression der Erkrankung gesellt sich zu der Ataxie eine Paraparese, wobei die ataktische Komponente immer ausgeprägter bleibt, als dies bei kompressiven Rückenmarksläsionen der Fall zu sein scheint. Verlust der Kontrolle über Harn- und Kotabsatz tritt erst in sehr fortgeschrittenem Stadium auf.

Die DM wurde auch bei zwei jungen Deutschen Schäferhunden beschrieben (6 und 7 Monate alt), die eine relativ kurze klinische Symptomatik von 3 und 5 Wochen bei Vorstellung zeigten. Auch hier bestanden progressive Ausfälle in beiden Hintergliedmaßen vom Typ des Oberen Motorneurons. Allerdings hatten beide Hunde normal Korrekturreaktionen (überköten), während die Hüpfreaktionen vermindert waren.15 Es ist nicht gesichert, ob es sich dabei um eine Variante der DM älter Schäferhunde handelt, oder um eine völlig unabhängige Erkrankung.

Ebenso wurde die DM in zwei Boxern im Alter von 9 und 10 Jahren beschrieben.3 Beide Hunde zeigten die typischen, langsam progressiven Lähmungsrescheinungen in beiden Hintergliedmaßen vom Typ des Oberen Motorneurons. Allerdings unterschied sich die klinische Symptomatik vom Deutschen Schäferhund dahingehend, dass beide Boxer beidseitig reduzierte Patellarsehnenreflexe aufwiesen.

Eine weitere Fallserie beschreibt eine ähnliche Problematik bei 3 verwandten Sibirischen Huskies im Alter zwischen 12 und 14 Jahren.10 Die neurologischen Ausfälle entsprachen denen der Deutschen Schäferhunde. In der Bildgebung an der Wirbelsäule konnte keine Läsion dargestellt werden. Im Liquor cerebrospinalis eines Hundes zeigte sich jedoch eine leichte Pleozytose und Erhöhung der Proteinkonzentration. Die histopathologischen Veränderungen bestanden in einer disseminierten Vakuolisierung der weißen Substanz des gesamten Rückenmarks, wobei die thorakalen Segmente am meisten betroffen waren. Die Tatsache, dass drei verwandte Huskies betroffen waren, legt die Vermutung nahe, dass es sich um eine genetisch bedingte Ursache handeln könnte.

Der Pembroke Welsh Corgi ist die einzige kleinere Rasse, die von der DM betroffen ist. Die Hunde entwickeln klinische Anzeichen im Alter zwischen 9 und 15 Jahren (median: 11 Jahre).9 Die Erkrankungsdauer, vom Beginn der Symptomatik bis zur Euthanasie, beträgt 10 bis 37 Monate. Die neurologischen Ausfälle ähneln denen des Deutschen Schäferhundes, wobei es einige Abweichungen gibt. So schreitet die Erkrankung meist bis zur Paraplegie voran, was für den Deutschen Schäferhund eher ungewöhnlich ist. Wobei das Argument angebracht werden könnte, dass beim Deutschen Schäferhund aufgrund seiner Größe eine solche Progression nicht abgewartet wird, sondern der Patient vorher eingeschläfert wird. Außerdem zeigen einige Corgis eine milde Beteiligung der Vordergliedmaßen, obgleich dies selten in offensichtlichen Gangabnormalitäten resultiert. Kürzlich wurde durch eine genomweite Assoziationsanalyse eine Mutation des Superoxid-Dismutase1-Proteins, die auch bei Menschen mit Multipler Sklerose vorhanden ist, beim Welsh Corgi identifiziert.4

Histopathologie

Histopathologische Veränderungen sind meist auf die weiße Substanz des Rückenmarkes begrenzt und betreffen sowohl die aufsteigenden als auch die absteigenden Bahnen. Dabei sind alle Funiculi mit Ausnahme des Fasciculus proprius betroffen. Am auffälligsten sind die Läsionen, die sich meistens asymmetrisch präsentieren, im Bereich der mittleren bis unteren Brustwirbelsäule.1 Sie sind gekennzeichnet durch Demyelinisierung, axonalen Untergang sowie sekundäre Astrozytose und-gliose. Zusätzlich kann man einen leichten neuronalen Untergang im dorsalen spinocerebellären Trakt sehen. Die pathologischen Veränderungen können sich auch auf die Dorsalwurzeln erstrecken. Die Vermutung, dass es sich bei den Läsionen um ein "Dying-back Phänomen" handelt, wurde auf der Basis morphometrischer Untersuchungen am Rückenmark verworfen.16

Darüber hinaus wurden gelegentlich intrakranielle Veränderungen wie Chromatolyse, Gliose und neuronaler Untergang im Nucleus ruber, dem Nucleus vestibularis lateralis und dem Nucleus dentatus beschrieben.7 Es wird vermutet, dass es sich dabei um die Folge einer Waller'schen Degeneration handelt. Dabei unterliegen Motorneurone des Gehirnes einer retrograden axonalen Reaktion, da sie ihre spinalen Verbindungen aufgrund der Rückenmarksläsionen verloren haben.

Die histopathologischen Befunde beim jungen Deutschen Schäferhund mit DM unterscheiden sich dahingehend, dass bei diesen keine Läsionen im dorsalen Funiculus gesehen werden, was erklären dürfte, warum bei diesen Patienten keine Defizite der Korrekturreaktionen beobachtet wurden.15 Gelegentlich haben diese Hunde milde axonale Degeneration in der weißen Substanz des Kleinhirnes.

Ätiologie

Eine Vielzahl von Untersuchungen hat sich der Fragestellung nach der Ätiologie der DM, insbesondere beim Deutschen Schäferhund, gewidmet. Eine autoimmune Pathogenese wurde basierend auf einer beeinträchtigten Reaktion auf ein thymusabhängiges Mitogen vermutet.17-19 Eine andere Studie fand Belege für Immunglobulin- und Komplementablagerungen im Rückenmark von deutschen Schäferhunden mit DM.20 Allerdings gibt es keine histopathologischen Anzeichen einer wie auch immer gearteten Entzündung bei diesen Hunden, die eine autoimmune Pathogenese stützen würden.2 Andere Autoren vermuteten einen relativen oder absoluten Vitamin E Mangel als Ursache.2 Versuche jedoch, den gleichen Gendefekt, wie er bei Menschen mit Familiärer Ataxie mit Isoliertem Vitamin E Mangel beobachtet wird, beim Deutschen Schäferhund mit DM nachzuweisen, schlugen fehl.22 Des weiteren wurde ebenfalls ein Vitamin B12 Mangel als Ursache in Betracht gezogen. So fand eine Studie einen erniedrigten Vitamin B12-Spiegel in 50% der Deutschen Schäferhunde mit DM.23 Allerdings zeigten diese Tiere keine Besserung der neurologischen Symptomatik unter Vitamin B12 Gaben. Eine andere Studie zeigten bei betroffenen Hunden einen normalen Vitamin B12-Spiegel.1

Diagnostische Tests

Die definitive Diagnose einer DM lässt sich nur postmortem in der histopathologischen Untersuchung stellen. Daher ist die Diagnosestellung am lebenden Tier schwierig und basiert weitgehend auf dem Ausschluss anderer Erkrankungen.

Nachdem1980 ein T-Lymphozyten (suppressor cells) Defekt bei Hunden mit DM identifiziert wurde, war man bestrebt, dies diagnostisch zu nutzen.17,18 So wurde der Flash-Test entwickelt, der auf dem Nachweis des Allels 11021, eines für die MHC II Funktion wichtigen Gens beruht, entwickelt. Eine kontrollierte Untersuchung zur diagnostischen Wertigkeit dieses Tests wurde jedoch nie publiziert.

Bildgebende Verfahren an der Wirbelsäule, einschließlich CT und MRT, sind zwar in der Lage die wesentlichen Differentialdiagnosen zur DM wie Typ II Diskopathien und Neoplasien auszuschließen, eine sichere Diagnose einer DM ist jedoch damit nicht möglich. Kürzlich wurden Myelographie-CT Befunde bei 8 Deutschen Schäferhunden mit vermuteter DM beschrieben.24 Dabei waren die folgenden morphometrischen Parameter bei Hunden mit DM kleiner als bei gesunden Vergleichstieren: Rückenmark/Durasack Querschnittsverhältnis, Rückenmark/Wirbelkanal Querschnittsverhältnis, Wirbelkanal/Wirbel Verhältnis. Zusätzlich wurden jedoch bei den Hunden mit klinisch vermuteter DM häufiger Wirbelkanalstenosen und chronische Bandscheibenerkrankungen als bei den Kontrolltieren beobachtet. Dies führt zu der Frage, ob die neurologischen Ausfälle bei diesen Hunden in der Tat Ausdruck einer DM sind oder eher auf chronisch kompressiven Rückenmarkserkrankungen beruhen und daher die in dieser Studie beschriebenen morphometrischen Abweichungen wirklich zur Diagnosestellung einer DM genutzt werden können?

Hunde mit DM können mitunter eine Erhöhung der Proteinkonzentration im Liquor cerebrospinalis zeigen.25 Außerdem ist das Myelin Basic Protein als Ausdruck einer Demyelinisierung bei Hunden mit DM höher als bei gesunden Kontrolltieren.26

Die kürzlich entdeckte Mutation des Superoxid-Dismutase1-Proteins beim Pembroke Welsh Corgi kann als Risikomarker für das Auftreten von DM genutzt werden.4 Der Test wird von kommerziellen Laboren für alle Rassen angeboten.

Therapie

Es ist allgemein akzeptiert, da es keine wirksame Therapie für DM gibt. Dennoch wird mitunter Aminokapronsäure aufgrund seiner Antiproteasewirkung empfohlen.25 Darüber hinaus wurde ohne wesentlichen Erfolg versucht, den Krankheitsverlauf durch die Gabe von lipidsenkenden Statinen, Zyanocobalamin, alpha-Tocopherol oder Methionin zu beeinflussen. Intensive Physiotherapie dagegen scheint den Krankheitsverlauf verzögern zu können, so dass Hunde etwas länger gehfähig bleiben.27

References

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27. Kathmann, et al. J Vet Intern Med 2006; 20: 927.

 

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