Hanspeter W. Steinmetz, Dr. med. vet. M.Sc.; Jean-Michel Hatt, Prof. Dr. med. vet. DACZM, DECZM (Avian)
Lesen Sie die englische Übersetzung: Dental Diseases in Rabbits and Guinea Pigs
Einleitung
In der Klinik für Zoo-, Heim, und Wildtiere der Universität Zürich sind Kaninchen und Meerschweinchen die am häufigsten vorgestellten exotischen Heimtiere, wobei Zahnerkrankungen die häufigste Ursache der Konsultationen darstellt. Aufgrund des speziellen Magen-Darm-Traktes und der oralen Anatomie mit kontinuierlich wachsenden Zähnen, sind die prompte Erkennung und die korrekte Behandlung entscheidend für den Therapieerfolg. Das vorliegende Manuskript gibt eine kurze übersicht über die komplexe Anatomie, Pathophysiologie und Behandlung der häufigsten Zahnerkrankungen bei Kaninchen und Meerschweinchen.
Anatomie, 8, 12
Kaninchen und Meerschweinchen sind Herbivoren und haben lebenslang wachsende, wurzellose Schneide- und Backenzähne (aradicular hypsodont). Während das Meerschweinchen bereits mit einem permanten Gebiss zur Welt kommt werden die Milchzähne beim Kaninchen im ersten Lebensmonat gewechselt. Die Zahnformel ist für Kaninchen: I 2/1; C 0/0; P 3/2; M 3/3 und Meerschweinchen: I 1/1; C 0/0; P 1/1; M 3/3. Die Incisivi sind stark gekrümmt und von weisser Farbe. An der Vorderseite weisen die Zähne einen dickeren Schmelzbelag als lingual auf, wodurch sich ihre meisselartige Form ergibt. Die Kaninchen besitzen hinter den Oberkiefer-Schneidezähnen zusätzlich feine Stiftzähne. An der labialen Seite der oberen Schneidezähne des Kaninchens befindet sich physiologisch eine Längsfurche im Schmelz. Beim gesunden Kaninchen kommen die Unterkieferschneidezähne bei geschlossenem Gebiss zwischen ersten und zweiten Oberkieferschneidezahn zu liegen. Die Schneidezahnkronen bei Kaninchen sind von gleicher Länge, während beim Meerschweinchen die Krone der Unterkieferschneidezähne beinahe doppelt so lang ist als im Oberkiefer.
Die Backenzähne, bestehend aus Prämolaren und Molaren, bilden eine funktionale Einheit und sind makroskopisch kaum zu unterscheiden. Die Molaren sind beim Meerschweinchen von Schmelzfalten durchzogen und haben buccal und lingual tiefe Furchen. Die Kauflächen weisen sogenannte Schmelzprismen auf, im Gegensatz zum Kaninchen bei dem Schmelzlinsen auftreten. Beim Kaninchen unterscheiden sich die Oberkiefer- und Unterkieferbackenzähne in ihrer Zahl, so dass jeweils ein Unterkieferzahn auf zwei Oberkieferbackenzähne trifft. Auch ist der Oberkiefer weiter als der Unterkiefer und die Kaufläche ist horizontal. Beim Meerschweinchen trifft jeweils ein Unterkieferbackenzahn auf einen gegenüberliegenden Oberkieferbackenzahn. Der Unterkiefer ist weiter als der Oberkiefer, so dass die Backenzähne stark gekrümmt sind und die Kaufläche in einem 30° Winkel von buccal nach lingual geneigt ist. Das Kiefergelenk besteht aus der Gelenkspfanne des Oberkiefers in der Form einer Längsrinne, in der der walzenförmige Fortsatz des Unterkiefers längs gelagert ist. Aufgrund der Form des Gelenkes, der Zahnstellung sowie des beidseitigen Verschiebens des Unterkiefers ergibt sich eine seitliche Bewegung des Kiefergelenkes, wodurch immer nur ein einseitiges Kauen möglich ist. Beim Meerschweinchen erfolgt die Hauptbewegung durch vor- und rückwärtige Unterkieferverschiebungen.
Pathophysiologie2, 10, 12
Das Wachstum der Zähne ist lebenslang und beträgt beim Kaninchen ca. 1 cm, beim Meerschweinchen 0.5 - 0.6 cm pro Monat. Im Unterkiefer wachsen die Zähne schneller als im Oberkiefer. Eine regelmässige Abnutzung steht physiologischerweise im Gleichgewicht mit einem dauerhaften Wachstum. Eine ausreichende Abnutzung hängt einerseits vom Rohfasergehalt des Futters, von der physiologischen Kaubewegung und von der Zahnstellung ab. Ist einer dieser Bereiche gestört, kommt es zu unzureichender Zahnabnutzung und als Folge davon zu Zahnüberlängen (erworbene Zahnfehlstellung). Ursachen einer nicht physiologischen Kaubewegung können angeborene, neoplastisch oder traumatisch bedingte Fehlstellungen, zu viel unphysiologisches Futter (Körner), und Infektionen sein. Die klinischen Anzeichen von zu langen Backenzähnen, wie Speicheln und Anorexie, sind durch schmerzhafte Verletzungen in der Mundschleimhaut zu erklären. Zahnüberlängen der Inzisivi führen im Gegensatz zu den Backenzähnen erst in einem sehr fortgeschrittenen Stadium zu klinischen Symptomen.
Die Ernährung ist einer der Hauptfaktoren in der Zahngesundheit. Der Rohfaseranteil stimuliert hauptsächlich die Magen-Darm-Peristaltik, ist aber auch für die Abnützung der Zähne verantwortlich. Ein ausreichender Rohfasergehalt wird erreicht durch Verfütterung von Gras und Heu als Grundfutter. Zu beachten ist, dass das im Handel angebotene Emd attraktiver aussieht, jedoch einen geringeren Rohfaseranteil aufweist als der erste Schnitt. Das Dürrfutter kann durch abwechslungsreiches Frischfutter wie Äste, Blätter, Kräuter, Leguminosen und Obst ergänzt werden. Beim Meerschweinchen spielt zudem die genügende Vitamin C-Versorgung eine wichtige Rolle. Ein Vitamin C-Mangel führt zu einer gestörten Bindegewebsbildung was wiederum zu einer ungenügenden Verankerung der Zähne führt. Als Folge der ungenügenden Abdeckung kommt es zu einem unregelmässigen Zahnabrieb und somit zur Bildung von Zahnspitzen.
Neben den erworbenen Zahnerkrankungen sind bei v.a. bei Kaninchen kongenitale Zahnerkrankungen, durch die spezielle Zucht nach Zwergwuchs und kurzen Köpfen, vorkommend.
Klinik2, 4, 8, 11
Aufgrund ihres Verhaltens Krankheiten zu verbergen, werden Kaninchen und Meerschweinchen erst spät im Krankheitsprozess in der tierärztlichen Praxis vorgestellt. Eine Zahnuntersuchung sollte daher bei jeder Konsultation durchgeführt werden. Die klinischen Symptome werden v.a. durch schmerzhafte Prozesse (z.B. Zahnspitzen) oder mechanische Behinderungen (z.B. Brückenbildung) verursacht und beginnen mit Gewichtsverlust, reduzierter Futteraufnahme, Dysphagie, Anorexie, veränderte Kotkonsistenz und -form, und nasses oder verklebtes Haarkleid im Halsbereich durch vermehrtes Speicheln. Im fortgeschrittenen Stadium verschlimmert sich die Klinik durch eine Infektionsausbreitung, ungenügende Zerkleinerung des Futters, und vermehrte unphysiologische Druckverhältnisse auf Zähne und Knochen. Nun können Epiphora, Dyspnoe, Exophthalmus, Schwellungen im Gesicht, purulenter Nasenausfluss, Augenausfluss (Darcrocystitis, Konjunctivitis, Ulzera der Kornea), Dermatiden, Magenanschoppung oder Tympanie, ungenügender Kieferschluss und schmerzhafte Kaubewegungen auftreten. Bei der Zahnuntersuchung sollte neben den primären Zahnveränderungen wie Zahnspitzen, lose oder abgebrochene Zähne, Fehlstellungen und Brückenbildung, zusätzlich auch auf das Vorkommen von Schleimhautverletzungen, Eiter und v.a. auch auf Knochenauftreibungen geachtet werden. Durch vermehrtes Wachstum im Apex des Zahnes kommt es zu Reaktionen am Knochen, die besonders gut an der Mandibula palpiert werden können. Auch Abszesse treten häufig auf.
Diagnostik1, 2, 4, 6-10
In der Diagnostik und Therapie von Zahnerkrankungen wurden grosse Fortschritte in den letzten Jahren erzielt. Die zunehmende Verbreitung von Endoskopie und Computer -Tomographie verbesserte die Diagnostik und das Einschätzen der Prognose.
Die Beurteilung der Schneidezähne kann ohne Hilfsmittel während jeder Konsultation vorgenommen werden, während die Beurteilung der Backenzähne eine fachgerechte Fixation oder sogar eine Anästhesie notwendig machen. Ein Otoskop oder ein Nasenspekulum aus der Humanmedizin verbessern die Einsicht in den engen Mundbereich. Beim Meerschweinchen befindet sich physiologischerweise immer etwas Futter im Maul. Dieses kann mit 1 - 2 ml Wasser weggespült werden, um sich einen besseren überblick zu verschaffen. Speziell zu achten ist auf unregelmässige Abnutzung mit Spitzenbildung, lockere bzw. gespaltene Backenzähne, Eiter, Zungen- und Wangenverletzungen, Zahnfleischentzündungen. Beim Meerschweinchen ist speziell darauf zu achten, ob die Backenzähne des Unterkiefers eine Brücke bilden und die Zunge immobilisieren. Kleinere Veränderungen werden jedoch gerne übersehen und weitere diagnostische Massnahmen sollten beigezogen werden.
Bei Vorliegen einer Zahnerkrankung empfiehlt sich eine Untersuchung mittels Endoskopie sowie eine radiologische Untersuchung. Für beide Untersuchungsmethoden muss das Tier anästhesiert werden, beispielsweise mit einer Isofluran-Inhalationsanästhesie. Für die radiologische Untersuchung wird das Tier in vier Ebenen geröngt: latero-lateral, dorso-ventral, sowie je links und rechts schräg (10 - 20°), latero-lateral. Es sind besonders fein zeichnende Folien zu wählen. Zunehmende Bedeutung gewinnt die computertomographische Untersuchung, die es erlaubt, noch detailliertere Krankheitsprozesse, wie Abszesse oder Zahnfrakturen innerhalb des Kieferknochens darzustellen.
Therapie2-5, 8, 12
Zahnerkrankungen bei Kaninchen und Meerschweinchen führen meist zu Anorexie und reduzierter Futteraufnahme. Daher sollte initial zunächst eine Stabilisierung des Patienten mit Zwangsfütterung (z.B. Oxbow Critical Care for Herbivore, via Provet, zusätzlich Benebac; Herbi Care Plus, WDT), Infusionen (z.B. Ringer-Laktat) und Analgetika (z.B. Metacam) erfolgen.
Bei der anschliessenden Zahnbehandlung sollte die normale Zahnlänge und Kaufläche wiederhergestellt werden. Lockere oder vereiterte Zähne müssen extrahiert und der Abszess behandelt werden. Das Kürzen von Zähnen oder die Entfernung von Spitzen erfolgt mit einem Hochgeschwindigkeits-Schleifgerät (25'000-30'000 U/min) und niemals mittels Zange, da dies zu Spaltenbildung an den Zähnen führen kann. Bei Fehlstellungen muss das Kürzen der Zähne in der Regel alle 4 - 8 Wochen wiederholt werden. Spezielle Zahninstrumente für Nager wie Wangenspreizer, Zungenspatel oder Maulspreizer ermöglichen eine gute Inspektion der Zähne. Die Extraktion der Schneide- und Backenzähne benötigen entweder einen Crossley's Luxator oder eine Injektionskanüle, die mittels eines Nadelhalters abgeflacht wurde, um den Zahnhalteapparat zu durchtrennen. Nach dem Lösen werden die Zähne mit einem Nadelhalter oder einer Zahnzange der Krümmung folgend vorsichtig aus dem Zahnfach gezogen. Wichtig ist die Kontrolle ob auch das germinative Gewebe mitentfernt wurde, welches sonst mittels einer Kanüle mechanisch zerstört werden muss, um das Nachwachsen des Zahnes zu verhindern. Nach der Zahnextraktion wird die Höhle mit verdünnter Iod- oder Chlorhexidin- Lösung gespült. Das Zahnfach kann mittels Einzelknopfnähten verschlossen werden, mit Ausnahme beim Bestehen einer Infektion. Nach Extraktion der Incisivi empfiehlt es sich dem Tier in den ersten 5 Tagen post operationem weiches und geraffeltes Futter anzubieten. Zudem wird ein Analgetikum verabreicht. Auch benötigen diese Tiere lebenslang eine regelmässige Fellpflege.
Bei Abszessen muss der betroffene Zahn extrahiert und der betroffene Knochen entfernt werden. Die Wunde wird in der Regel offen gelassen (Marsupialisierung) und regelmässig gespült. Das Einlegen eines Depot-Antibiotikums und eine Langzeit-Antiobiotika -Therapie wird ebenfalls empfohlen.
References
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